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Was ist ADHS? (Und was nicht?)

Zugegeben, heute war nicht mein Tag. Ich habe mich darüber aufgeregt, dass eine Patientin der Klinik nun in den ADHS-Fragebögen quasi immer „mittelgradig“ ankreuzte. Weil sie an den Tisch der ADHSler und nicht weiter zu den eher kühlen und ständig mit dem Thema Essen beschäftigten „Essgestörten“ wollte. Der Aussagekraft von einem HASE-Fragebogenset zur Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter misstraue ich schon lange.

Andererseits habe ich heute einer Patientin einen medikamentösen Behandlungsversuch mit Methylphenidat vorgeschlagen, die vermutlich in den Fragebögen 0 von 18 Symptomen von ADHS nach DSM oder ICD angeben würde. Und der ich dennoch aus meinem eigenen „Bauchgefühl“ die Diagnose ADS bzw. Regulationsstörung aus dem Spektrum Aufmerksamkeits- und Impulskontrollstörungen verpassen würde. Bei uns ist sie wegen Fressanfällen einer sog. Binge Eating Störung und einer erheblichen Depressiven Störung. Mir persönlich fiel eine Art Blinzeltic auf.

Ich nenne sie mal Frau X.
Sie hat einen sehr individuellen Weg als Tochter einer Erzieherin und eines Gymnasiallehrers hinter sich. Ihre Kindheit sei „normal“ verlaufen. Wenn man mal davon absieht, dass sie seit dem Kindergartenalter sich immer anders als die Anderen fühlte und verhielt. Sie sei etwas „moppelig“ gewesen, aber letztlich wegen ihrer Unsicherheit und Langsamkeit gehänselt worden. Sie sei schnell gereizt gewesen bzw. habe impulsiv Kontra gegeben, was ihr zusätzliche Probleme bereitete. Dementsprechend sind die Zeugnisse „gut“ und freundlich gehalten. Aber immer wird letztlich auch die Unsicherheit bzw. Zurückgezogenheit im Sinne einer emotionalen Umgeschicklichkeit beklagt. Die so ganz und gar nicht zu einer Tochter von zwei Pädagogen passte.
Bei offenbar hoher Intelligenz „beschloss“ sie dann, keine Gefühle mehr nach Aussen zu zeigen. Richtig, es war mehr oder weniger eine Entscheidung, um nicht noch mehr Angriffsfläche zu liefern.

Ihre schulischen Leistungen waren gut bis sehr gut. Auch wenn sie langsamer war als Klassenkameradinnen. Aber seit der Grundschulzeit imponierten psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen und unklare Bauchschmerzen. Was den Eltern nicht weiter auffiel, war auch eine starke Erschöpfbarkeit. Nach der Schule zog sie sich auf ihr Zimmer zurück und schlief. Weil sie schlicht „fertig“ war. Während andere Schüler Hausaufgaben machen und lernen mussten, erfasste sie Lerninhalte schnell. Ausdauer beim Lernen war eher nicht ihre Stärke. Aber ihr bildliches Gedächtniss und eben ihre Intelligenz (darf man intellektuelle Intelligenz von emotionaler oder sozialer Intelligenz trennen?) halfen.
Mit der Pubertät nahmen emotionale Schwankungen bzw. Probleme zu. Wurden aber auf die Pubertät zurückgeführt. Soziale Kontakte zu Gleichaltrigen klappten irgendwie nicht. Was sie auf die Selbstunsicherheit zurückführte.

Zunehmend glitten ihr Selbstwahrnehmung und vor allem Selbstregulation aus dem Ruder. Sie zog sich zunehmend zurück und wählte einen sehr individuellen Ausbildungsweg, der sie quasi in eine von Männern dominierte Welt mit sehr klaren Regeln und sehr wenig Freiräumen führte. Hier „funktionierte“ sie gut.

Nur eben ausserhalb dieser Arbeitszeiten brach dann das Defizit an Selbstregulation bzw. Selbstkontrolle in Form von Fressanfällen deutlicher hervor. Typisch dabei ist, dass sie es „in guter Verfassung“ noch abfangen konnte. Aber eine sehr geringe Stresstoleranz bzw. leichte Erschöpfbarkeit aufwies.

Ich kann wirklich nicht erklären, warum ich bei dieser Patientin an ADHS gedacht habe. Es ist eher ein Bauchgefühl.

Sie weist ein durchgängiges Muster an Regulationsstörungen seit der frühesten Kindheit auf. Diese Regulationsdynamik spürt man im Kontakt. Sie ist aber weder motorisch unruhig und würde sicher auch Aufmerksamkeitsstörungen verneinen. Dennoch ist sie extrem leicht irritierbar und ablenkbar. Sie hat gelernt, dies nicht zu zeigen. Sie hat gelernt, dennoch gute Leistungen zu bringen. Aber eben mit weit höherem Energieaufwand und geringerer Ausdauer als Frauen gleicher Entwicklungsstufe.

Ihre Essstörung sehe ich als Störung der Impulskontrolle. Ob diese nun in der Diagnose ADHS aufgeht, wird sich weiter zeigen.

Darf man „so“ ADHS diagnostizieren bzw. gar eine medikamentöse Behandlung einleiten? Vermutlich nicht. Weder habe ich klare Beweise für die Symptomatik im Kindesalter, keine valide Fremdanamnese und auch keine aussagekräftigen „Tests“. Ich habe die Anamnese und die Verhaltensbeobachtung.

Ich habe den Eindruck, sie konnte ihr eigentliches Potential nicht umsetzen. Obwohl sie  Karriere gemacht hat. Ich habe das Gefühl, dass sie ablenkbar und eine geringe Aufmerksamkeitsleistung hat. Obwohl oder gerade weil sie einen Job hat, der hier  Höchstleistung erfordert. Sie ist eher eine „Schlaftablette“ als ein Unruhegeist (sorry, das ist jetzt eher liebevoll nett gemeint).

ADHS kann eben neben der extrovertierten hyperkinetischen Form auch als nach innen gewandte Variante auftreten. Ich stehe mit dem sog. „unaufmerksamen Subtyp“ eher auf Kriegsfuss. Weil eben häufig quasi von „Konzentrationsmangel“ auf ADHS oder ADS geschlossen wird. Was ich falsch finde.

Bei ihr ist aber eben derzeit nur das „Gefühl“ bei mir da. Ich werde es weiter überprüfen und ggf. verwerfen oder bestätigen müssen. Mal sehen, wie es weiter geht.

12 Gedanken zu „Was ist ADHS? (Und was nicht?)

  • Hallo Herr Dr. Winkler, konnte denn ein Weg gefunden werden Ihrer Patientin zu helfen? Es wäre wirklich spannend davon zu hören.

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    • Helfen ja. In diesem Fall dann mittelfristig ohne Medikation. Aktuell habe ich aber in meiner Gruppe mehrere ähnliche Patientinnen, die in Hinblick auf emotionaler Selbststeuerung sehr von Amphetaminsaft profitieren. Und ich vertraue jetzt tatsächlich häufiger als früher meinem Gefühl und liege häufiger als gedacht richtig. Es gibt aber eben auch den umgekehrten Fall wie gerade heute, wo eben ein Medikationsversuch trotz ziemlich offensichtlicher ADHS-Anamnese zunächst zu einer verstärkten inneren Angstsymptomatik und Unruhe führt. Das ist dann ein Grund, die Medikation (zunächst) nicht weiter zu verfolgen.

      Antwort
  • Wow – das ist ja beinahe mein Leben!!

    Mit knapp 30 habe ich die Diagnose ADHS erhalten. Kurz davor wurde mein IQ gemessen – der Wert liegt über 130. Und seit ich etwa 17 bin, leide ich an Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Mischformen. Wobei seit ca. 25 Bulimie ganz klar vorherrscht.

    Irgendwann habe ich auch beschlossen, meine Qualitäten nicht im schulischen Bereich oder in meinem Charakter zu suchen (dafür wurde ich – trotz guten bis sehr guten schulischen Leistungen und einem aufgeweckten, aber halt auch anstrengenden Charakter nie gelobt), sondern im Äusseren. Das gab dann immerhin Aufmerksamkeit und Bewunderung. Ausserdem war ich extrem angepasst und funktionnierte innerhalb einer ’schwierigen‘ Familie gut, wobei ich auch Aufgaben, die Eltern zugedacht sind, übernommen habe.

    Cannabis hat mir so ab 16 geholfen, ruhiger zu werden. Mit dem Problem, dass ich ohne zu kiffen nicht mehr einschlafen konnte (wobei ich schon früher, als Kind, immer spät eingeschlafen bin).

    Seit der ADHS – Diagnose nehme ich zeitweise Ritalin (bis zu 3 x 50 mg/Tag), zeitweise nicht (irgendwie „will“ ich keine Medikamente nehmen). Wenn ich aber Ritalin nehme, dann bin ich vor einer Essstörung geschützt. Ich habe diese innere Spannung nicht, diese Unruhe, die mich dazu „zwingt“ zu essen. Auch sinkt mein Kaugummi-Konsum unter Ritalin drastisch.

    Nun aber ein Problem – wenn ich nicht kiffe (das mache ich ohnehin seit über 10 Jahren nicht mehr), keine Ess-Brech-Attacke habe und nicht getrunken habe, fällt es mir schwer, einzuschlafen… Hat jemand eine Idee? Dann drehen sich die Gedanken in meinem Kopf… Genauso wie jetzt, um 2 Uhr morgens. Dass sich das negativ auswirkt auf meine Arbeit, ist ja wohl klar. Auch, dass ich so eher wieder zu einer Fressattacke neige.

    Glücklicherweise war ich „intelligent“ genug, trotz geringem Aufwand und wenig Präsenzzeit das Fachhochschulstudium abzuschliessen (was mich immer wieder erstaunt – vor allem, da ich auch heute noch das Gefühl habe, da nichts gelernt zu haben). Das als Zusatz – denn auch ich habe immer irgendwie das Gefühl, nicht an mein Potential anschliessen zu können…

    (Und nur, damit es keine Missverständnisse gibt – ich sehe den IQ als genetisch gegeben und bin daher genauso stolz darauf wie auf meine Haarfarbe).

    Antwort
  • Ein drastischer Beleg für eine undifferenzierte und inkompetente klinische Qualifikation, lieber Herr Dr. Winkler! Die Problematik als Reglationsstörung abzutun, ist doch völlig nichtssagend und hilflos. Die Kindheit in der Herkunftsfamilie als „normal“ abzuhaken belegt das mangelhafte Bemühen des Diagnostikers, seine Patientin empathisch verstehen zu wollen. Wie war die Kindheit bei den Eltern wirklich? Gab es nicht vielleicht eine Überfürsorge, eine Behinderung der Autonomie- und Selbstwertentwicklung? Das würde die seelische Verfassung der Patientin verstehbar machen und Psychotherapieoptionen bieten.
    Aber Sie folgen Ihrem „Bauchgefühl“, demzufolge alles „Regulationsstörungen“ sind. Eine solche klinische Kapitulation schreit dann förmlich nach MPh.
    Arme Patientin!

    Antwort
  • Angelika M.

    Lieber Herr Doktor Winkler,
    vielleicht interessiert Sie in dem Zusammenhang mit dieser Patientin eine Dissertationsarbeit, die sich u.a. mit dem Thema der Komorbidität von AD(H)S und Asperger Autismus (es gibt auch leichte Formen davon) beschäftigt.
    Die Autorin ist mittlerweile die Leiterin der Autismusambulanz der Uniklinik Köln und hat meine beiden Töchter diagnostiziert. Eine Tochter hat auch ADS UND Asperger Autismus, was zu einer eher untypischen und verflixt komplizierten Ausprägung führt.
    http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=982986912&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=982986912.pdf
    Sehr viel in Ihrem Artikel sprach nach meinem bescheidenen Wissen für autistische Züge der Patientin.
    Das hilft nicht bei der gewählten Medikation, ggf. aber beim Verständnis.
    Mit lieben Grüßen aus dem Raum Köln
    Angelika M.

    Antwort
    • Vielen Dank !
      Sehr guter und sehr richtiger Hinweis. So gut, dass ich in einer Fortsetzung noch ausführlicher darauf eingehen möchte. Ich glaube aber eher, dass es ein Spektrum-Problem ist. Also: Man kann das Problem aus dem Blickwinkel ADHS bzw. Regulationsdynamik anschauen, aber auch aus dem Bereich Autism spectrum disorder. Oder sogar als Tourette-Syndrom (was ich nicht tun würde, immerhin aber die MHH in einem vergleichbaren Fall).

      Aber es ist sicher richtig, hier auf die Möglichkeit eines milden Asperger Syndroms hinzuweisen! Ich werde heute die Patientin danach nochmal genauer fragen und berichten 🙂

      Antwort
      • Angelika M.

        Lieber Herr Doktor Winkler,
        es freut mich sehr, dass Sie mit meinem Beitrag etwas anfangen konnten.

        Ich finde das sehr interessant und sehr gut, wie Sie das sehen:
        Meine bisherige Erfahrung ist auch so: je nachdem, um welchen Mittelpunkt man herum „drapiert“, benennt man eine Erscheinungen entweder als zentralen Punkt und den Rest als Komorbiditäten oder eben einen anderen, wodurch dann die zuvor als Komorbidität bezeichnete Erscheinung zum zentralen Punkt wird.
        Etwas wirr geschrieben, konkret gesagt: Ob die Tics als zentrale Störung gewertet werden und das damit einhergehende AD(H)S oder ob das AD(H)S als zentrale Störung betrachtet wird und die Tics als Komorbidität, oder ob zentral eine Autismusspektrumsstörung mit entsprechenden Komorbiditäten postuliert wird, hängt von der Perspektive des Betrachters ab. So ist jedenfalls meine Erfahrung.
        Wobei auch die MHH mehrere motorische plus mindestens einen vokalen Tic zur Diagnose von Tourette „erwartet“, soweit ich aus unserer Familienerfahrung sprechen darf. Da würde ein einzelner Blinzeltic nicht eine solche „Umsortierung“ rechtfertigen.

        Ich fand das von Ihnen sehr schön geschrieben, da für mich in Ihren Zeilen mitschwang: „Im Endeffekt ist es ja egal, wie man es bezeichnet, Hauptsache, man findet einen Weg um zu helfen.“
        Und genau das sollte ein guter Arzt ja tun 🙂

        Ganz liebe Grüße!
        Angelika M.

  • Ich hatte es auch nicht so verstanden, als wolltest du MPH gegen Fressanfälle einsetzen. Nur wenn die Patientin wegen Fressanfällen in Behandlung kommt und MPH „die Lösung“ ist, könnte das (nach außen hin) zu Missverständnissen führen. Oder wegen der Nebenwirkungen irgendwas verschleiern.
    Ich denke, dass du mit der Erschöpfung der Selbstbeherrschung den Schlüssel zu der Geschichte gefunden hast.

    Antwort
  • Das Gefühl kann ich beim Lesen dieser Schilderung nachvollziehen. Wenn man AD(H)S als Regulationsstörung begreift, passt die Diagnose. Wenn man es als Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörung begreift, eben nicht.
    Ich habe mich allerdings gefragt, ob die Gabe von Methylphenidat „gegen Fressanfälle“ evtl. eine Kette von Missverständnissen nach sich ziehen würde. (Weil z.B. mein Sohn extreme Appetitlosigkeit als Nebenwirkung hat.)

    Antwort
    • Natürlich wäre es falsch, Methylphenidat gegen Fressanfälle zu verordnen. Hätte die Patientin mich mit dieser Intention gefragt, hätte ich es nicht so eingesetzt. Sie ist glaube ich die letzte Person, die bei sich selbst an ADHS denken würde. Einfach, weil sie schon immer so ist (isst) wie sie ist.

      Appetitlosigkeit wäre bei Erwachsenen weniger das Problem der Medikation. Gerade bei Adipositas und Binge Eating-Störung sind ja die positiven Effekte einer suffizienten ADHS-Therapie bekannt.

      Nun könnte man natürlich erst auf Verhaltenstherapie bzw. Psychotherapie setzen. Aber ich hatte eben den Eindruck, dass hier die neurobiologische Basis der Störung wichtig ist. Und ich glaube auch, dass ich jetzt ein Stück genauer weiss, warum ich dieses Gefühl habe. Es geht um die Erschöpfung der Selbstbeherrschung bei ADHS. Dazu später in einem Artikel mehr.

      Antwort
      • Moment… ich habe ganz normal ADS – aber dazu Essprobleme folgender Art:
        Bis zur Diagnose habe ich mich mit Essen zugedröhnt. Weil ich ja nicht wusste, wo meine Probleme anzusiedeln waren. Seit der Diagnose konnte ich mein Gewicht mühelos halten.
        Da waren die Hungeranfälle weg.
        Dann kam aber noch ein PCO (bedingt durch ein Uebergewicht wegen zudröhnens mit Essen in der Pubertät) dazu. Frage deine Patientin mal ob sie Süsshunger hat? Jedenfalls, seit mein PCO mit Metfin behandelt wird ist auch der Süsshunger weg und ich nehme anstandslos ab.
        Was heisst, ich muss zwar abnehmen, aber nicht mehr noch zusätzlich gegen den Strom schwimmen.
        Für mich als ADSlerin ist abnehmen übrigens einfach, wenn ich mein Essen auf eine Mahlzeit am Tag beschränke, wo ich esse was ich will und den Rest des Tages dann halt eben nicht mehr esse. Tönt ev. etwas schräg, aber passt durchaus zu meiner „Wahrnehmung“ 😉

  • hm.. ich hab die Diagnose.. und so weit von deiner Patientin bin ich nicht weg! mph hilft mir sehr. Ich denke, du bist auf dem richtigen Weg.

    Antwort

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