ADHS & GesellschaftKonstruktive ADHS-Kritik

ADHS: Auf dem Weg zur Lifestyle-Diagnose?

Hier habe ich mich vor einer Weile zu den diagnostischen Kriterien der ADHS im neuen DSM-5 geäussert. Ich habe neben einigen positiven Neuerungen auch auf mögliche Probleme aufmerksam gemacht. So stellte ich unter anderem fest, dass die Kriterien der ADHS gegenüber der Vorgängerversion (DSM-IV) insgesamt gesehen ‚offener‘ definiert wurden.

In diesem Zusammenhang möchte ich Folgendes ergänzen: Bei meinen bisherigen Vergleichen DSM-IV und DSM-5 habe ich übersehen, dass in der neuen Fassung das ganz zentrale diagnostische Kriterium „D“ komplett anders definiert wurde.

Vorab aber noch Informationen zu den anderen diagnostischen Kriterien der ADHS:

  • A: Definiert werden in den Bereichen Unaufmerksamkeit (A1) und Hyperaktivität/Impulsivität (A2) achtzehn Kriterien, von denen für eine ADHS-Diagnose je sechs erfüllt sein müssen.
  • B: Betrifft das Alter bei Erstmanifestation.
  • C: Probleme müssen situationsübergreifend auftreten.
  • E: Probleme dürfen nicht durch eine andere Erkrankung besser erklärbar bzw. verursacht sein.

Zunächst zum Kriterium „D“ im ‚alten‘ DSM-IV. Es lautet wie folgt:

„D: Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein.“

Und so wird das das Kriterium „D“ im neuen DSM-5 formuliert:

„D: Es sind deutliche Hinweise dafür vorhanden, dass sich die Symptome störend auf die Qualität des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus auswirken oder dieses reduzieren.“

Während die Symptomatik gemäss DSM-IV zu klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen führen musste, um die Diagnose ADHS stellen zu können, reicht es nunmehr aus, dass sich die Symptomatik störend im Alltag auswirkt.

Auch wenn dieser Unterschied auf den ersten Blick unscheinbar oder unwichtig erscheint, muss festgehalten werden, dass das DSM-5 an diesem Punkt eine 180 Grad-Kehrtwende vollzogen hat.

Um das nachvollziehen zu können, muss man wissen, was Fachpersonen unter „klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen“ genau verstehen. Von „klinisch“ wird in medizinischen und psychiatrischen Fachkreisen dann gesprochen, wenn bei einer Patientin oder bei einem Patienten aktuell Symptome und Beschwerden in Erscheinung treten, die einer vermuteten oder gesicherten Krankheit zugeordnet werden können. Klinisch bedeutsam sind Symptome und Beschwerden dann, wenn sie beim betroffenen Individuum mit Leiden (z.B. Schmerz) verbunden sind, wenn sie zu Freiheitsverlust führen (z.B. wenn Kinder im Unterricht wegen Konzentrationsstörungen anhaltend nicht mithalten können oder etwa bei Stellenverlust wegen chronischer Vergesslichkeit) und wenn sie ein hohes Risiko mit sich bringen, dass sich die Symptome, die damit verbundenen Beeinträchtigungen und die Krankheit an sich verschlimmern könnten. Wenn Ärztinnen oder Psychologen vom „klinischen Bild“ sprechen, meinen sie das gesamte, je aktuelle Beschwerdebild einer Patientin oder eines Patienten.

Zusammengefasst: Wenn von „klinisch bedeutsam“ die Rede ist, betrifft dies ernste Anzeichen / Symptome einer Erkrankung.

Im DSM-5 wird dieser klinische Kontext nicht mehr erwähnt. Zur Erfüllung des Kriteriums „D“ reicht es nunmehr aus,  dass sich die Symptome störend auf die Qualität des (…) Funktionsniveaus auswirken oder dieses reduzieren. Mit dieser neuen Definition wurde die Schwelle zur Erfüllung des Kriteriums „D“ (und damit für die ADHS generell) auf einen Schlag von der Zone der Erkrankung in jene des Alltags herabgestuft. Es reicht nunmehr aus, dass sich eine definierte Anzahl von Konzentrationsproblemen und/oder eine zu hohe Impulsivität im Alltag störend auswirken und die die soziale oder berufliche Anpassung erschweren. Die Symptome müssen also gemäss DSM-5 nicht mehr den Schweregrad einer Erkrankung aufweisen.

Es mag überspitzt klingen. Und ist es vielleicht auch. Aber wenn man gemäss DSM-5 nicht mehr krank sein muss, um eine Diagnose ADHS zu erhalten, wird aus der ADHS bald einmal tatsächlich eine Lifestyle-Diagnose.

Man mag nun einwenden, dass dies doch eine positive Änderung sei. Nun sei es endlich möglich, dass auch Menschen mit leichten Symptomen eine ADHS-Diagnose und eine passende ADHS-Therapie erhalten würden. Dem ist aber nicht so. Wie hier aufgezeigt, können bereits mit dem DSM-IV alle ADHS-Betroffenen erfasst werden (sofern ihre Beschwerden klinisch relevant sind) . Dass immer noch zu wenige Menschen mit einer ADHS erfasst und behandelt werden, liegt nicht an den diagnostischen Kriterien, sondern alleine an der immer noch ungenügenden Versorgungssituation.

Das DSM-5 führt dazu, das mehr Menschen als bisher die Voraussetzungen für die Diagnose ADHS erfüllen. Heikel ist diese ‚Aufweichung‘ der diagnostischen Schwelle für die ADHS-Diagnose deswegen, weil die Anzahl der falsch-positiven Diagnosen weiter zunehmen wird und weil noch mehr Patientinnen und Patienten irrtümlich mit ADHS-Medikamenten behandelt werden dürften. Es handelt sich um einen weiteren Schritt in die falsche Richtung: Immer mehr Lebensbereiche und Befindlichkeiten wegen zugänglich gemacht für psychiatrische Diagnosen und noch mehr Menschen werden so zu guten Kunden von Apotheken.

Ob „klinisch bedeutsam“ oder „störend“ ist nicht doch so wichtig! Sind das nicht akademische Spitzfindigkeiten? Und ist das alles nicht bloss Wortklauberei?

Man muss sich vor Augen halten, dass dem DSM-5 in der Forschung, bei Versicherungen, im klinischen Alltag und auch bei der Rechtssprechung eine hohe Bedeutung zukommt. Ähnlich einem Gesetzestext hat auch im DSM-5 jedes Wort und jede Formulierung Gewicht. Nichts ist einfach nur so nebenbei daher geschrieben. Zudem: Alle grossen ADHS-Studien stützen sich bei der Definition ihrer Ein- und Ausschlusskriterien auf das DSM-5 (wer gehört zu Untersuchungsgruppe der Patienten, wer zu den Gesunden?). Auch für alle neuen ADHS-Tests bilden die diagnostischen Kriterien des DMS-5 der Goldstandard.

„Und was bedeutet das alles für mich als Mutter einer Kindes mit einer (möglichen) ADHS oder für mich als erwachsener ADHS-Betroffener? Heisst das nun, dass die ADHS in Wirklichkeit gar nicht existiert?“

Keine Sorgen. Die ADHS-Problematik ist evident, seit Jahrzehnten bekannt und gut erforscht. Meine obige Kritik betrifft nicht die ADHS als echtes Problem realer Menschen. Sondern den Sachverhalt, dass mit dem neuen DSM-5 die Schwelle für eine ADHS-Diagnose noch tiefer angesetzt wird. Das ist mit möglichen Problemen verbunden. Und nur darum geht es mir bei meinen Ausführungen.

Wer unsicher ist, ob die eigene oder die ADHS-Diagnose seines Kindes korrekt und/oder vollständig ist (etwa bei fortbestehenden Problemen), soll mit dem behandelnden Arzt oder der zuständigen Psychologin Rücksprache halten. Bei Bedarf kann man sich auch eine Zweitmeinung einholen.

 


 

Siehe zu dieser Thematik auch hier: ADHS-Kriterien nach DSM-5: Fluch oder Segen?

 

5 Gedanken zu „ADHS: Auf dem Weg zur Lifestyle-Diagnose?

  • Also laut Google gibt es den DSM V (auch auf deutsch) in PDF Form zu erwerben 🙂

  • Stephan Hafner

    (…) Was ist mit der ohnehin schon unzufrieden stellenden Situation für Betroffene? Wie festgestellt verschlimmert sich die Situation der ohnehin nicht flächendeckenden Versorgung. Das bitte ich nicht nur für die zu bedenken, denen es gelungen ist, in ihrem Umfeld und die Versorger zu überzeugen, dass ihr Leiden krankheitsbedingt ist. Es gibt jedoch auch andere, nämlich die, deren Schwierigkeiten zwar diagnostiziert sind, das Umfeld aber nach wie vor der Ansicht ist, dass der Betroffene sich das Leben nur möglichst einfach machen will.
    Was das für Folgen nach sich zieht scheinen den Wenigsten wirklich bewusst zu sein.

  • Deinen Überlegungen kann ich insoweit zustimmen, dass nicht alles, was anders ist auch Krankheit sein muss. Und der DSM ist nun mal ein Krankheitskatalog.
    Ich sehe da ein Dilemma, das mit unserem Krankheitsbegriff zu tun hat.
    Ein Epileptiker, der in der Jugend Grand-Mal Anfälle hatte und durch medikamentöse Einstellung Jahrelang anfallsfrei lebt, sich ausbildet, arbeitet ohne Einschränkungen, sich selbst auch überhaupt nicht als krank erlebt, ist für die Mediziner dennoch ein Epileptiker.
    Auch gut eingestellte Diabetiker sind nicht gesund.

    Was aber ist mit ADHS?
    Wie hoch soll die Latte der Einschränkungen sein?
    Schulunfähig? Oder reicht gelegentlicher Ärger?
    Akademische Eltern werden es sicher als Einschränkung betrachten, wenn der intelligente Filius wegen dauerndem Entgleisen nur Realschule schafft. Andere Eltern finden, das ist ein guter Abschluss auch wenn deren Filius vllt. noch intelligenter ist. Ärzte werten da oft ähnlich.

    Ich finde BEIDE Formulierungen werden nicht dem Umstand gerecht, dass ADHS eine neurountypische Wahrnehmung, Reizaufnahme, Filterung, Verarbeitung mit Auswirkungen auf die exekutiven Handlungsfunktionen und Impulssteuerung ist.
    Es gibt immer wieder Phasen, in denen das mit den Handlungsfunktionen und Impulsunterdrückung unter Aufbietung von Disziplin und viel Energie – und/ oder mit Hilfe von Medis- einigermaßen klappt.
    Nicht umsonst hören Betroffene und deren Eltern ihr Leben lang Sprüche wie: ach, ich bin auch manchmal vergesslich, unordlich, chaotisch….. Ich bin auch mal sitzen geblieben- blablablub.

    Konkrete Frage: was ist also mit den ( auch nach altem DSM ) diagnostizierten ADHSlerm , bei denen es gerade mal gut läuft? Auch über längere Zeit? Mit Medis und/ oder guten Kompensationsstrategien?
    ADHSler ja oder nein?

    Aus meiner Sicht gibt es da kein ‚an-aus-an‘ . Dass das Leben mal halbwegs normal läuft, macht aus einem ADHSler noch lange keinen NT.
    Und nicht jeder ADHSler ist ‚krank‘ .
    Bedauerlich, das wir nur in den Kategorien gesund-krank denken können/ wollen.

    Für die Betroffenen, die das letzte DSM Kriterium deshalb nicht eindeutig – ob alt oder neu- überspringen können, bedeutet das oft : Fehlbehandlung , keine Behandlung. Noch nicht einmal Verständnis.

    Nur zur Klarstellung : ich teile deine Ansicht, dass nicht alles ADHS ist , auch wenn es so scheinen mag. Fehlbehandlungen in diese Richtung sind genauso schlimm.

  • Wissen Sie ob es möglich ist, im Internet Einsicht in das DSM-V zu erhalten?? Danke!

Kommentare sind geschlossen.

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