ADHS in den MedienAllgemeinKonstruktive ADHS-Kritik

Warum nur?

Eines erstaunt mich immer wieder:

Bisher habe ich keine Publikation gelesen und keinen TV-Beitrag gesehen, welcher sich kritisch mit dem Thema ADHS befasst, ohne dabei gleichzeitig die Existenz der ADHS und der von ihr betroffenen Menschen mit seinen Nöten zu negieren.

Das ist wirklich schade, denn am gegenwärtigen Verständnis der ADHS und der Versorgungspraxis gibt es nämlich viel kritisch zu hinterfragen.

Auch im jüngsten kritischen Medienbericht zu ADHS bleiben Betroffene und ihre Angehörigen auf der Strecke (Interview mit Helmut Bonney in „Gehirn & Geist“ 9/12). Wenn Bonney sagt:

„Man verortet die Ursache des Problems im Individuum statt in der Umwelt.“,

bedeutet das in seinem Entweder-oder-Schema immer auch, dass das betroffene Individuum damit „draussen“ bleibt. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass Bonney gar nicht verstanden hat, was ADHS ist. Für ihn ist ADHS (fälschlicherweise) die Folge von Reizüberflutung:

„Viele Eltern glauben, sie müssten ihren Nachwuchs ständig stimulieren. Oft haben sie das Bedürfnis, schon bei den ersten Unmutsäußerungen des Kindes irgendetwas zu machen, weil sie ihrem Nachwuchs sonst vermeintlich Schaden zufügen. Das führt letztlich zu einer dauernden Überstimulation. Und bei einigen Kindern setzt das eine fatale Rückkopplungsschleife in Gang: Je mehr Stimulation sie bekommen, desto mehr dürsten sie nach neuen Reizen.“

Folgerichtig nur, wenn er dann schreibt:

„Die Therapie zielt dann darauf ab, Kind und Eltern Wege aufzuzeigen, wie man mit weniger Stimulation zurechtkommt.“

ADHS als Folge einer Überstimulation zu konzipieren klingt zwar gut, ist aber einfach nur falsch. Das geht am Problem ADHS total vorbei. ADHS ist nicht ein zu viel, sondern ein zu wenig an Stimulation. Betroffene hungern nach Inputs, weil diejenigen neuronalen Netzwerke, welche die Reizselektion und die Impulskontrolle regulieren, im normalen Alltag unteraktiviert sind. Wenn eine Therapie ADHS-Betroffenen hilft, dann ist es Stimulation und nicht Reizentzug.

Ich will dies exemplarisch am Problem „Einschlafstörungen bei ADHS-Kindern“ aufzeigen:

„Einschlafprobleme treten bei Kindern mit einer ADHS derart häufig auf, dass ich sie mit zu den Kernsymptomen dieses Syndroms zähle. Ich erinnere mich an kein Kind mit einer unbehandelten ADHS, welches problemlos einzuschlafen vermochte. Eigentlich auch verständlich, stellt doch die Einschlafzeit eine sehr reizarme Situation dar: Ruhe (keine akustische Stimulation), kaum Licht (keine visuelle Stimulation), kein Anfassen, kein aktives Bewegen und sich Spüren (keine taktile Stimulation). Da ADHS-Medikamente am Abend nicht mehr wirken, bedeutet das Ausbleiben von visueller, akustischer und taktiler Stimulation zur Einschlafzeit, dass die Kinder über noch weniger Reizschutz verfügen. Folge: Sie spüren alles und werden hypersensibel. Aus jedem noch so schwachen Druck auf die Blase wird ein: „Ich muss sofort aufs WC, sonst mache ich ins Bett!“, aus jedem noch so kleinen Durstgefühlchen wird ein: „Ich muss jetzt sofort etwas trinken!“, aus jedem möglicherweise Sorge erzeugenden Gedanken wird Angst und aus kaum wahrnehmbaren Schatten des Kleiderständers werden Gespenster oder Zombies. All diese Sinneseindrücke und deren Verarbeitung halten die Kinder verständlicherweise lange wach. Um es auf den Punkt zu bringen: Kinder mit einer ADHS können sich auch nicht gut auf den Schlaf konzentrieren. Tatsächlich erfordert ein Einschlafen, dass der Reizfilter aktiv ist, dass alles zurzeit Unwichtige ausgeblendet und abgeschaltet werden kann. Und genau dies können Kinder mit einer ADHS zur Einschlafzeit infolge des Stimulationsmangels sehr schlecht.

Damit Kinder sich auf den Schlaf konzentrieren können, sollte zwei Stunden vor der Einschlafzeit auf TV und Spielkonsolen verzichtet werden. Dann kann versucht werden, das Kind zur Einschlafzeit visuell (zum Beispiel durch ein sanft leuchtendes Mobilé) oder akustisch (zum Beispiel einen plätschernden Zimmerbrunnen) zu stimulieren. Nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach. Es fokussiert sich dann auf diese Stimuli, was zu einer Aktivierung der Reizfilterung führt und dem Kind schliesslich ermöglicht, abzuschalten und einzuschlafen. Eltern beichteten uns wiederholt, dass auch eine halbe Tasse mit stimulierendem Milchkaffee Wunder wirken könne, währendem Baldrian und andere beruhigende pflanzliche Mittel entweder gar nicht nutzten oder sogar eine gegenteilige, also aufputschende Wirkung hatten. In ganz hartnäckigen Fällen wird die verantwortliche Ärztin oder der zuständige Arzt eine kleine Dosis Stimulanzien – eingenommen 30 Minuten vor der vorgesehenen Einschlafzeit – verordnen, womit sich das Problem der fehlenden Konzentration auf den Schlaf in den meisten Fällen lösen lässt.“ (Quelle)

Zurück zur eingangs gestellten Frage, wieso es keine kritischen ADHS-Medienberichte gibt, welche sachlich begründet sind und nicht zur Ausgrenzung von ADHS-Betroffenen führt.

Ich vermute, dass die Einseitigkeit in Stellungnahmen, wie der von Herrn Bonney, unter anderem darauf beruhen könnte, dass die Verfasser und Interviewpartner einfach viel zu wenig (oder keinen) Kontakt mit ADHS-Betroffenen und ihren Angehörigen pflegen. Dass es sich bei der ADHS auch um ein ‚handfestes‘ neurobiologisches Problem des betroffenen Individuums handelt, sieht man doch allein schon daran, dass es in einer Familie Kinder mit und ohne ADHS geben kann. Auch die hohe familiäre Häufung der ADHS, welche allen ins Auge fällt, welche mit diesen Patienten arbeiten, weist eindrücklich darauf hin, dass die Ursachenzuschreibung „Umwelt“ viel zu kurz greift. Bonney scheint diese im Alltag unübersehbaren Tatsachen einfach nicht erfahren bzw. erlebt zu haben. Nur so kann er wohl an seiner unrealistischen „Umwelt-Theorie“ der ADHS festhalten.

Übrigens: Unsere Blog-Kollegin Chris hat zum Artikel in „Gehirn & Geist“ eine lesenswerte Stellungnahme verfasst. Danke!

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